Teil 3: Leitbild „Stadt der kurzen Wege“
Bildunterschrift: In urbanen Gebieten werden im Schnitt häufiger umweltfreundlichere Verkehrsmittel genutzt.
Hier in Sandhausen wohnen, in einer anderen Stadt arbeiten, ins Gewerbegebiet zum Einkaufen fahren. Wie wir heute leben wird, in Bezug auf die Stadtplanung, seit knapp 100 Jahren durch die „Charta von Athen“ beeinflusst. Im Zuge der Industrialisierung löste die damit einhergehende massive Landflucht (Urbanisierung bzw. Zuzug in die Stadt) enge und ungesunde Lebensverhältnisse in den Städten aus. Oft waren die Zustände aus heutiger Sicht unvorstellbar: mangelnde Hygiene, Kälte, Feuchtigkeit und Dunkelheit herrschten seinerzeit dort.
Um gezielt gegen diese städtebaulichen „Sünden“ vorzugehen, wurde die Charta von Athen 1933 verabschiedet. Darin wurde v.a. die funktionale Trennung von bebauten Quartieren nach Wohnungen, Büros, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeit, Gewerbe und Industrie festgelegt. Die Funktionstrennung soll der Verdichtung der Großstädte entgegenwirken. Darüber hinaus sollten die einzelnen Gebiete durch Grünanlagen voneinander getrennt und durch Verkehrsachsen miteinander verbunden werden.
Dieses Leitbild gewann in der Nachkriegszeit große Bedeutung und prägt das Stadtbild bis heute. Obwohl sich Arbeits-, Wohn- und Erholungsflächen in ihrer Qualität deutlich verbesserten, führte die räumliche Trennung zu einem starken Anstieg des Verkehrs und aller damit verbundenen Probleme. Besonders mit dem Aufkommen der Motorisierung des Individualverkehrs (Autos) begann eine Abkehr von den Idealen der Charta.
Es folgte eine Weiterentwicklung, die „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ wurde 2007 unterzeichnet. Hauptbestandteil sind nun funktional gemischte und verdichtete Stadtquartiere, die zudem wirtschaftlich und ökologisch nachhaltiger sind.
Das daraus abgeleitete Leitbild „Stadt der kurzen Wege“ möchte ich nun vorstellen.
Die 15-Minuten-Stadt: kompakt, urban, grün
Eine Stadt der kurzen Wege zeichnet sich durch verschiedene Eigenschaften aus:
- strukturell ausgewogene Durchmischung miteinander verträglicher Nutzungen / vertikale Flächennutzung
- kompakte Siedlungsstrukturen
- verträgliche Dichte der Bebauung
- attraktive Wohnquartiere, die zum Aufenthalt einladen
- (fußläufige) Erreichbarkeit von Grundbedürfnissen:
- Wohnen, Arbeit, (Nah-)Versorgung, Dienstleistungen, Freizeit- und Bildungsorten
- ggf. gute Erreichbarkeit mit dem Rad & öffentlichen Verkehrsmitteln
Wir können aus den Punkten erkennen, dass eine funktionale Trennung störender Industrie weiterhin gegeben ist. Auf der anderen Seite sind viele Gewerbe sehr gut in Wohnbebauung integrierbar, wie wir bereits heute in Sandhausen beobachten können, z.B. Apotheke, Friseur, Bäckerei, Postfiliale, Sanitätshaus, Fachhandel oder Computer-Dienstleistungen. Mit einer vertikalen Nutzung können Flächen noch besser ausgenutzt werden. So können über den Geschäften Wohnungen entstehen oder flächenverbrauchende Parkplätze in Tiefgaragen untergebracht werden.
Einkaufsmöglichkeiten in Gewerbegebieten oder auf der „Grünen Wiese“ führen zu weiteren Wegen als zentrale Nahversorgung. Auch heute wird hierbei noch das Prinzip der Charta von Athen verfolgt! Oft werden größere Supermärkte mit vielen Angeboten und Parkplätzen besser angenommen, sodass nach und nach „Dorfläden“ aus den Stadtbildern verschwinden. Dies wiederum trägt dazu bei, dass die Autoabhängigkeit („Wir sind auf das Auto angewiesen“) erst geschaffen wird.
Insgesamt spielt die Nachverdichtung, die im zweiten Teil der Diskussionsreihe ausführlich erläutert wurde, für das Leitbild „Stadt der kurzen Wege“ eine wichtige Rolle. Wohnen viele Menschen in der Nähe eines Nahversorgers, gibt es genügend Potenzial für die Nachfrage. Außerdem genießt er den Vorteil, dass die Kundschaft den kurzen Weg meistens zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegt und er somit Parkplätze sparen kann. Wohnen stattdessen nur wenige Kunden in der Nähe, müssten mehr Menschen aus dem weiteren Umfeld anreisen, um eine entsprechende Nachfrage zu erzeugen. Diese müssten also längere Wege auf sich nehmen und würden wohl vorwiegend mit dem Pkw kommen. Das bedeutet ergo: mehr Fläche, Infrastruktur, Ressourcen usw.
Diese Betrachtung gilt auch für den ÖPNV: Existiert um eine Haltestelle herum eine dichte Bevölkerung, die genügend Potenzial für Fahrgäste bietet, kann diese öfter bedient werden. In einem neu entstehenden Baugebiet oder in ländlichen Gebieten gibt es jedoch wenige potenzielle Fahrgäste, weswegen häufig das Angebot unattraktiv ist.
Zu beachten ist jedoch, dass eine hohe Dichte nicht automatisch zu Urbanität führt. Viele wohnende Menschen in einem Gebiet allein schaffen noch keine Belebung, sondern können auch zur Entwicklung einer sogenannten „Schlafstadt“ führen. Es soll im Sinne des Leitbildes darauf geachtet werden, dass genügend Freiraum gegeben ist und noch wichtiger, eine ausgewogene Nutzungsmischung mit Angeboten vor Ort gegeben ist.
Darüber hinaus haben Studien ergeben, dass eine verdichtete und durchmischte Siedlungsstruktur allein nicht ausreicht, sondern dass auch Maßnahmen im Verkehrsbereich erforderlich sind. Finden sich keine sicheren Fahrradabstellanlagen vor Ort, haben manche Radfahrende ein unbehagliches Gefühl beim Abstellen ihres Fahrrads. Fahren Busse irrwitzige Umwege und brauchen viel Zeit, wird das Auto bevorzugt. Sind z.B. Gehwege durch falschparkende Autos blockiert oder die Gehwege zu schmal, macht das Zu-Fuß-Gehen keinen Spaß.
Denn eine Stadt der kurzen Wege soll zum Schlendern, Begegnen und Aufenthalt einladen.
Ebenfalls steigern kleinere begrünte Innenhöfe, gepflegte Parkanlagen, öffentliche Plätze und andere Begegnungsorte die Attraktivität der Wohnareale. Dadurch könnten die Bedenken entkräftet werden, dass es auch in dicht besiedelten Städten und Quartieren wie in einem Dorf zugehen kann, wo die Leute sich noch kennen.
Kurze Wege für Zeit- und Emissionsersparnis
Idealerweise sollten Sie innerhalb von 15 Minuten (zu Fuß/mit dem Rad) von zu Hause aus alles finden, was Sie brauchen. Es geht bei dem Konzept „Stadt der kurzen Wege“ nicht um die Mobilität an sich, sondern vielmehr um die Chance, mehr Zeit für andere Zwecke zur Verfügung zu haben.
Zwar haben wir hier gute Möglichkeiten, innerorts auf kurzen Wegen zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs zu sein, z.B. zum Kindergarten oder zu Nahversorgungszentren. Zur Arbeit werden jedoch längere Wege und mehr Zeit in Kauf genommen und die allermeisten nutzen dafür ihr Auto. Die Lage im Speckgürtel, die Suburbanisierung als Folge der Funktionstrennung, wie in der Einleitung beschrieben, und die starken Pendlerströme in der Metropolregion Rhein-Neckar machen dieses Idealbild zunichte.
Nach alldem, was wir bisher erfahren haben, stellen wir nun die Frage: Wie soll Sandhausen sich entwickeln? Wir könnten stark in die Höhe nachverdichten mit genügend Freiraum und Grün sowie einer Funktionsmischung. Nachteilig wirkt sich die Autoabhängigkeit aus, denn wo sollen die Autos parken. Ich bin Realist genug, um zu wissen, dass für viele Menschen ihr Auto ein unverzichtbares Fortbewegungsmittel ist. Das bedeutet aber, dass bei der Nachverdichtung große Parkplätze geschaffen werden müssen und auch zukünftig mit viel Autoverkehr zu rechnen ist. Wir könnten eigentlich so viel mehr Wohnungen schaffen, werden aber oft gleichzeitig durch die Stellplatzverpflichtung gehemmt. In Sandhausen müssen bei Neubauten einer Drei- oder mehr Zimmer-Wohnung i.d.R. zwei Stellplätze nachgewiesen werden. Das kann in manchen Fällen zu der absurden Situation führen, dass die Parkplätze mehr Fläche verbrauchen als das Wohngebäude.
Außerdem befinden wir uns in einem Dilemma: Da infolge der Stellplatzverpflichtung Parkplätze vor der Wohnung vorhanden sind, sind viele Menschen eher bereit, statt umweltfreundlicher Verkehrsmittel ihren Pkw zu nutzen, einfach, weil er ja schon dasteht. In Großstädten oder Altbausiedlungen ohne zahlreiche Stellplätze kann es vorkommen, dass die Parkplatzsuche so lange dauert und der Parkplatz so weit von der Wohnung entfernt ist, dass die Mobilität zu Fuß, mit dem Rad oder mit dem ÖPNV viel schneller und attraktiver ist.
Fazit: ein bisschen höher bauen, bessere Wege, mehr Funktionsmischung und Grün
Ist das Leitbild „Stadt der kurzen Wege“ vielleicht doch nur eine Ideologie für Großstädte? Dürften wir nur noch dort neue Wohnungen schaffen, da die Gegebenheiten dafür am besten sind (hohe Dichte, Funktionsmischung, kurze Wege). Müssten wir im krassesten Fall im Sinne der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes Dörfer und ländliche Gebiete aufgeben, die durch Einfamilienhäuser und Autoverkehr unserer Umwelt schaden?
Wie ordnen wir Sandhausen da ein? Können wir aus Sandhausen einen Ort des Wohlfühlens, mit attraktiven Wegen und Aufenthaltsplätzen, mit erstklassiger Nahversorgung, mit viel Grün und guter Anbindung an den ÖPNV schaffen?
Dann sollten wir in die Höhe nachverdichten, weniger Pkw-Stellplätze zugunsten von Grünflächen fordern, mehr verträgliche Funktionsmischung erlauben und uns für bessere Fuß- und Radwege sowie attraktiven ÖPNV einsetzen! Denn dann haben wir ein „Sandhausen der kurzen Wege“.
Gemeinderat Lukas Öfele